1: Grenzgänger
2: Solisten
Ein Wohnviertel in Berlin Wilmersdorf. Geschichten von den Nachbarn im Karree um den Bundesplatz in Berlin, die seit 1985 Dokumentarfilmer Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich an ihrem Privatleben teilhaben lassen. So entsteht ein Soziogramm vom Kiez der letzten Jahre des vergangenen und der ersten des neuen Jahrhunderts, ein Fingerabdruck unserer Gegenwart.
Die Hauptrollen dieser Langzeit-Dokumentation sind wie sie sind, heißen wie sie heißen, sie leben, träumen, arbeiten, feiern wie im wirklichen Leben. So wird der Bundesplatz zur Mitte der Welt. Alltagsleben und Zeitgeschichte verschmelzen zu einem Bild der deutschen Wirklichkeit.
Zwei neue Filme bieten die Möglichkeit zu einer abwechslungsreichen Zeitreise durch einen Mikrokosmos. Ein Berliner Kiez als Bühne für eine »Comédie humaine«.
Kalle Gerhus lag jahrelang auf einer Bank am Volkspark. Er war Alkoholiker und Nichtsesshafter. Mitleidige Wilmersdorfer Bürger versorgten ihn mit Lebensmitteln und Kleidung.
Eines Tages bietet ihm eine Stadträtin einen Heimplatz an und Kalle Gerhus´ Leben nimmt einen anderen Verlauf. Er wird sesshaft, hört auf zu trinken, lässt sich die Zähne richten, bekommt eine randlose Brille. Sein Aussehen verändert sich radikal: Aus dem wie 70-jährig wirkenden Penner wird ein 40-jähriger, strahlender Mann.
Karl-Heinz Gerhus richtet sich in einer kleinen Wohnung ein, macht mehrere Aushilfsjobs, bekommt dann eine Stelle beim Roten Kreuz. Zögerlich nimmt er Kontakt zu Frauen auf und versöhnt sich mit seiner Schwester in der Lüneburger Heide.
Im Herbst 2000 bricht er bei der Arbeit zusammen und muss ins Krankenhaus eingeliefert werden. Dort diagnostiziert man als Folge des langen Alkoholmissbrauchs ein kaputtes Herz. Er selbst rechnet sich keine Chance aus, auf die Warteliste für ein Spenderherz zu kommen. Nachdem er sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen hat, stirbt er einige Tage später in seiner Wohnung. Seine Urne wird in seinem Heimatdorf anonym beigesetzt.
Zur Person Karl-Heinz Gerhus: Geboren im Frühjahr 1952 in Gifhorn, ev.-luth., Ausbildung zum KFZ-Mechaniker. Gesellenprüfung 1971.
1972 Bundeswehr, nach Dienstgradherabsetzung wegen Vorfällen, über die er ungern spricht, 1974 Entlassung als Panzerschütze.
Familie Yilmaz lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Herr Yilmaz kam als Kind mit seinen Eltern nach Berlin und fühlt sich inzwischen als Deutscher. Mit seinem Bruder betreibt er ein Reinigungs- und Gärtnerunternehmen.
Seine Frau unterzieht sich einem Sprachtest, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen. Die Fragen und Rollenspiele während der Prüfung entbehren nicht einer gewissen Komik – wenn der Anlass nicht so ernst wäre. Die beiden Kinder sollen es hier in Deutschland besser haben. Sie sprechen ebenso wie der Vater perfekt deutsch.
Trotz Annahme der deutschen Gewohnheiten und Bräuche schlägt die türkische Familientradition durch. Der Junge soll beschnitten werden. Dies geschieht ambulant in einer Kinderchirurgie. Gefeiert wird aber später im Heimatdorf in der Türkei.
Erol Yilmaz wurde 1967 in Malatya im Südosten der Türkei geboren und kam als 11-jähriger 1978 mit seinen Eltern nach Berlin.
Beide Eltern arbeiteten ca. 30 Jahre in Deutschland bei einem Hausgerätehersteller am Fließband. Erol hatte als Kind den Wunsch, Pilot zu werden. Er machte in Berlin das Abitur. Er lebt seit 1990 am Bundesplatz, ist verheiratet und hat zwei Kinder, Sohn Emre (9) und die siebenjährige Simge.
Originalton Erol Yilmaz:
»Deutsch habe ich einer deutschen Schule gelernt. Die ersten zwei Jahre in einer Spezialklasse, wo nur Deutsch gelernt wurde. Das war vielleicht unser Glück. Zuhause haben wir nur Türkisch gesprochen. Die Eltern haben so gut wie gar nicht Deutsch gesprochen. Meine Frau war in mehreren Kursen. Theoretisch ist sie in der deutschen Sprache gut, praktisch fehlt ihr der Mut.
Mein Sohn geht auf die Leute ganz offen zu und spricht sie an. Die Tochter ist sehr zurückhaltend. Durch den Hort sehe ich eine größere Entwicklung ihrer Aussprache.
Vor einem Jahrzehnt hätte ich die Frage, ob ich mich in Deutschland wohl fühle, mit ›Nein‹ beantwortet. Im Lauf der Zeit gewöhnt man sich an das Wetter, an die Leute, an die Sprache und ich fühle mich schon heimischer jetzt. Ich hab´ Kontakt zu allen möglichen Leuten aufgebaut.
Ich fühle mich hier als Weltbürger und als Atheist. Inge Meysel hat es mal so gesagt und so sollten sich auch alle fühlen: Als Moslem, Christ oder Jude, als Italiener, Türke oder Deutscher – sie alle sind nur Weltbürger.
In die Zukunft gucke ich nicht, ich lebe die jetzige Stunde, den jetzigen Tag, und was morgen wird ... Das hat man an diesem Ereignis in New York gesehen, dass man an Morgen gar nicht denken sollte, sondern was jetzt ist, leben sollte.
Eine finanzielle Absicherung, nicht im großen Stil, aber eine Sicherheit wünsche ich mir für die Zukunft. Die Kinder können selbst eine Zukunft aufbauen. Dafür versuchen wir sie gut zu erziehen.«
Mike Galinnus, geboren 1967, Vater Rentner, Mutter kaufmännische Angestellte. Mike ist am Bundesplatz geboren und aufgewachsen. Er war schon immer ein Problemkind – meint jedenfalls die dominierende Mutter. Mikes Vater, ein alter Fallschirmspringer und Militarist, hätte gern, dass der Sohn in seine Fußstapfen tritt. Doch nach dem Tod des Vaters versucht sich Mike als Kellner, arbeitet dann in einer Zigarettenfabrik und findet nach und nach zu seiner Profession: Er wird Lassokünstler und Bauchredner.
Er hangelt sich von Auftritt zu Auftritt. Kurz nach der Wende fährt er in die immer noch existierende DDR und will den Leuten dort Cowboy- und Lassotricks beibringen. Als Kleinkünstler wird er immer erfolgreicher, aber mit seinen verschiedenen Partnerinnen will es nicht so richtig klappen.
Franz Kozmus wurde im Januar 1961 in Nellingen, Baden-Württemberg, geboren. Die Eltern kamen 1957 als anerkannte Wirtschaftsflüchtlinge mit dem älteren Bruder Janko aus Slowenien nach Deutschland. Als Jugendlicher wollte er Radio- und Fernsehtechniker werden. Der örtliche Fußballverein verhalf ihm 1977 zu einer Lehrstelle als Elektriker.
In den 1980er Jahren ist Franz Kozmus »Autonomer«. Er flüchtet vor dem Wehrdienst nach Berlin, pflegt sein schwarzes Outfit und seine roten Punkerhaare. Er lebt bescheiden von Sozialhilfe und Zeitungsaustragen und verweigert sich der Gesellschaft.
Im Sommer 1987 macht er eine lange China-Reise. Sein mitgebrachtes Fahrrad wird ihm abgenommen, weil es zu westlich ist. Er dreht seine Reiseerlebnisse mit einer Super-8-Kamera, die wir ihm mitgegeben haben, und das Ergebnis ist beachtlich. Wir ermuntern ihn, eine Ausbildung an einer Kameraschule zu machen. Nach seinem Abschlussfilm wird er Kameraassistent in unserer Produktion und arbeitet weiter mit bei »Berlin – Ecke Bundesplatz«, nun allerdings auf der anderen Seite der Kamera.
Inzwischen hat er sich als Kameramann selbständig gemacht und ist gut im Geschäft.
»Wenn ich von mir etwas erzähle, ist mir das unangenehm. Lieber verstecke ich mich hinter dem Okular. Vor der Kamera muss ich mir Gedanken über mich selbst machen. Eine Zeit lang hab ich das sehr gern gemacht. Mit der Zeit wird man vorsichtiger. Es wird einem immer mehr rausgelockt. Dann war ich eigentlich ganz froh, als es hieß: ›Wenn du bei uns arbeitest, dann geht es mit dem Portraitieren nicht mehr weiter.‹
Dass es so ein gütliches Ende gefunden hat, finde ich gut. Nicht, dass ich sagen musste, ich hab keine Lust mehr. Es war sehr interessant die ganzen Jahre, nur das eine oder andere mal wurde es mir zu persönlich.
Ich spielte schon eine Rolle, noch mal würde ich es nicht machen.
Was ich damals gesagt habe, ist schon merkwürdig. Allein schon wenn man die eigene Stimme hört ... Es war schon o.k., aber man kann mit 40 nicht mehr so hinter dem stehen, was man als 25-Jähriger gesagt hat.«
Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich
Zwei Filme à 60 Minuten,
16 mm, Farbe
Harald Beckmann, Hans-Georg Ullrich
Detlef Gumm
Monika Smith
Ljiljana Fisch
Manfred Herold
Andi Brauer
Wolfgang Samlowski
Claudia Dufke
Franz Kozmus
Heiner Schlieper
Jürgen Volkéry
Monika Paetow (WDR)
Rolf Bergmann (rbb)
Reinhard Wulf (3sat)